Wie spielt Hannover?
Saisonentwicklung
Seit Tayfun Korkuts Amtsübernahme zum Januar 2014 hat sich Hannover 96 immer weiter von einer reinen Umschaltmannschaft hin zu einer im Ballbesitz dominanteren, in der Ballzirkulation sichereren Mannschaft entwickelt. Während diese Entwicklung zu Beginn der Hinrunde noch auf Grund von Verletzungssorgen ausgebremst wurde, nahm die spielerische Weiterentwicklung seit dem späten Herbst an Fahrt auf. Während in den letzten Hinrundenspielen noch die defensive Stabilität litt, ist in der Rückrunde die konstante Durchschlagskraft aus dem Spiel heraus das größte Problem. Zudem wurden trotz sehr dominanter, taktisch solider und recht flexibler Auftritte in den jüngsten Partien viele gute Chancen schlicht nicht genutzt. Zusammen mit teilweise kurios unglücklichen Gegentoren und einzelnen spielerischen Schwächephasen der Mannschaft ergibt sich eine verheerende Bilanz: Aus den ersten fünf Spielen im Jahr 2015 konnte 96 nur zwei Punkte mitnehmen, erzielte nur vier Tore und liegt dementsprechend auf dem vorletzten Platz der Rückrundentabelle – vor dem VfB Stuttgart…Spielaufbau
Im Spielaufbau hat Hannover 96 unter Korkut einerseits sehr große Fortschritte vorzuweisen. Andererseits ist es nicht allzu abwegig, zumindest die spätere Phase des Aufbaus als den neuralgischen Punkt des 96-Spiels zu bezeichnen. Im Gegensatz zu früher fächern die 96-Innenverteidiger breit auf, die Außenverteidiger halten eine möglichst gute Anbindung an die beiden zentralen Akteure. Da 96 mit Ron-Robert Zieler über einen technisch sehr sauberen und zudem spielintelligenten Torwart verfügt, wird diese Aufbaustruktur in der Regel mit einer Torwartkette bespielt. Diese ist in ihren Mechanismen größtenteils sicher und ausgewogen; darüber hinaus wird ihre Höhe an das gegnerische Pressing angepasst – für Zieler alles kein Problem. Auf diesem Weg ist bereits eine stabile Ballzirkulation im ersten Drittel gewährleistet, die sich auch hauptursächlich für die sehr hohen Ballbesitzzeiten Hannovers zeichnet. Ergänzt wird diese Grundstabilität im Aufbau durch den technisch starken und flexiblen Sechser Schmiedebach, der variabel ab- und herauskippt und als Verbindungsspieler fungiert. Da unabhängig von der konkreten Besetzung die zentralen Defensivspieler Hannovers jedoch nicht besonders spielstark oder gar pressingresistent sind, kommt den Offensivspielern eine wichtige Rolle im Spielaufbau zu. Besonders Lars Stindl ist dabei mit (dynamischen) ballfordernden Läufen aus dem zentralen Mittelfeld hervorzuheben, bei denen er je nach Spielsituation den Ball kurzzeitig zu schleppen versucht oder anderweitige Kombinationen anschieben soll. Besonders mit dem in den defensiven Halbraum zurückfallenden Hiroshi Kiyotake im linken Mittelfeld kann Stindl den Übergang von der Ballzirkulation im ersten Drittel in das Angriffsspiel einleiten. Die technische Stärke der beiden Mittelfeldakteure sowie die sehr starke Ballbehandlung des linken Außenverteidigers Albornoz ermöglichen auf diese Weise einen guten Übergang. Fehlen diese gut aufeinander abgestimmten Bewegungen jedoch, schlägt sich die mangelnde Spielstärke der Aufbauspieler durch. In diesen Fällen sucht Hannover durch eine eher risikolose Zirkulation in der Torwartkette nach Gelegenheiten, „in die Struktur zu kommen“ (wie Korkut immer wieder von der Seitenlinie verlangt). Kreative Lösungen für den Übergang ins zweite Drittel werden dabei jedoch selten gefunden.Ballbesitz
Sollte Hannover dies jedoch gelungen sein, tritt die Mannschaft in eine Spielphase ein, in der unlängst ebenfalls einige vielversprechende Ansätze zu sehen waren. Im Angriffsspiel versucht 96, durch die flexiblen Bewegungen der Offensivspieler, kurze Wege für flache, schnelle und nach Möglichkeit direktes Kombinationsspiel herzustellen. Dabei orientiert sich Kiyotake stark ins Zentrum, und Joselu agiert sehr umtriebig im Zurückfallen aus dem Sturmzentrum, um das zweite Drittel oder den seitlichen Zehnerraum zu füllen. Zusammen mit dem ohnehin omnipräsenten Stindl und dem unterstützenden Schmiedebach können dabei einige stabile Kombinationsmechanismen und Synergien erzeugt werden. Jimmy Briand als technisch deutlich abfallender Akteur auf der rechten Offensivseite kommt dabei die Aufgabe zu, die von Joselu verlassene Zone zu besetzen, während der zweite Sechser – zuletzt Salif Sané an Stelle des für diese Rolle prädestinierten Gülselam – absichernd agiert. Immer wieder sucht 96 im Angriffsspiel und Ballbesitz generell nach Ablagemöglichkeiten sich fallen lassender Akteure und kurzzeitiger Dreiecksbildung, um möglichst zielstrebig den Weg zum Tor zu finden. Die Kehrseite der flexiblen Rolleninterpretation der Offensivspieler äußerte sich zuletzt jedoch sehr deutlich: die Gegner lassen sich im Wissen um Hannovers Möglichkeiten weniger auf offenere Staffelungen und riskanteres Spiel ein, sodass die Angriffe Hannovers an Tempo verlieren. Durch das Zurückfallen Joselus und die höhere Aufmerksamkeit der gegnerischen Defensivreihen für Lars Stindl verliert 96 an Präsenz in der letzten Linie, die Durchschlagskraft leidet massiv und 96 erarbeitet sich zu wenige Chancen ansprechender Qualität. Wenn dann wie zuletzt die dennoch vorhandenen Möglichkeiten nicht genutzt werden, und der Schwung im Spielaufbau verloren geht, besitzt 96 zwar den Ball, kann damit aber zu wenig anfangen. Insgesamt ist das Ballbesitzspiel Hannovers recht zentrumslastig. Da weit aufrückende Außenverteidiger wegen individueller Geschwindigkeitsprobleme der Defensivspieler zudem recht riskant ist, fehlt es 96 im Angriffsdrittel manchmal etwas an Breite, was sich bei geringem Spieltempo leicht verteidigen lässt. Da sich das Gegenpressing nach Ballverlusten in dieser Rückrunde eher wechselhaft zeigt, sind solche statischen Angriffssituationen für 96 also in doppelter Hinsicht schlecht: vorne kommt man schlecht zu durchschlagskräftigen Spielzügen, hinten ist man anfällig für Konter.Pressing
Auch im Spiel gegen den Ball tritt Hannover seit Korkuts Amtsübernahme positiv verändert und einigermaßen variabel auf. 96 stört den gegnerischen Spielaufbau in der Regel in einem hohen Mittelfeldpressing, bei dem durch situative Mannorientierungen im zentralen Mittelfeld (Schmiedebach stößt je nach Gegner nach, um einen tiefen Sechser aus dem Spiel zu nehmen) die Nachteile der 4-4-2 oder 4-4-1-1-Formation ausgeglichen werden sollen. Durch das durchaus intensive Anlaufen der beiden Pressingspitzen soll sich das Spiel des Gegners nicht entfalten können und lange Bälle erzwungen werden. Wenn das Spiel von den guten Pressingspielern im ersten Band auf den Flügel geleitet werden kann, rücken die beiden Flügelspieler meist intensiv nach und stellen mit dem ballnahen Stürmer und Sechser möglichst Überzahlsituationen her. Im Lauf der Saison gab es einige gegnerspezifische Anpassungen im Pressing zu sehen, sodass 96 dabei nicht allzu ausrechenbar auftritt. Während es im Hinspiel in Stuttgart zum Beispiel ein zurückhaltendes 4-1-4-1 mit pendelnden Achtern zu sehen gab, trat 96 gegen Bayern München mit einem 5-3-2 an. Zuletzt wurde vor allem das Verhalten der Flügelspieler zur Variation genutzt, sodass 96 teilweise im hohen 4-2-1-3 oder mit einem im Anlaufen asymmetrischen 4-1-3-2 das gegnerische Spiel zu stören versuchte. Grundsätzlich soll 96 dabei eine gute Mischung aus Intensität und Kompaktheit finden, was manchmal wegen problematischer Folgebewegungen des Mittelfeldes etwas misslang. Insgesamt verschiebt 96 aber kollektiv gut und größtenteils sauber zum Ball, was hin und wieder noch durch zentrale Mannorientierungen ergänzt wird. Eine vom Potential her starke Endverteidigung führt in der Folge dazu, dass 96 bei gegnerischem Ballbesitz eigentlich nicht besonders anfällig ist – von individuellen Defiziten abgesehen, die sich insbesondere bei schnellem Spiel und hoher Qualität des Gegners zeigen.Was wird passieren und was könnte Stevens machen?
Vielmehr dürfte entscheidend sein, was Stevens gegen den Ball aufbietet, wie Hannover damit umgeht und ob sich daraus eventuell Kontergelegenheiten für den VfB ergeben. Nach dem eher untypischen und auch erfolglosen Auftritt im 4-4-2 gegen Dortmund, wird er, schätze ich, wieder zum stabileren 4-1-4-1/4-4-1-1 der Vorwochen zurückkehren. Das würde auch zu Hannovers Mittelfeldaufteilung passen: Der halbrechte Achter bzw. der Zehner (wahrscheinlich Leitner) könnte dann Hannovers tieferen linken Sechser abdecken und damit Verlagerungen entschleunigen. Von dort aus hätte Leitner dann die Möglichkeit, flexibel in umliegende Bereiche nachzurücken und zu unterstützen, während Gülselam oder Sané bestenfalls im Deckungsschatten verschwindet. Der linke Achter - vermutlich kehrt Gentner zurück - würde dann gelegentlich herausrücken, oder sich tiefer halten und die Kompaktheit gegen Hannovers kombinationsstarkes offensives Mittelfeld verstärken. Möglicherweise öffnen sich aber auf dieser Seite hier und da Räume, wenn der linke Außenspieler mannorientiert in die Abwehrkette zurückfällt. Das ginge dann mit Freiheiten für den beweglichen Schmiedebach einher, der von dort aus Kombinationen einleiten könnte.
Daher wäre es denkbar, dass der Mittelstürmer ein bisschen leitend auf diese Seite schiebt und Gentner dort unterstützt oder sogar Hannovers Spielaufbau auf den Flügel festnagelt. Problem dabei wäre nur, dass Hannover mit Zieler eine zuverlässige Rückpassoption hat, über die man diesen angedeuteten Druck wohl ganz gut auflösen würde. Daher wäre auch eine symmetrische Doppelspitze wie gegen Dortmund möglich, die sich dann auf den Sechserraum konzentrieret und die nicht besonders spielstarken 96-Innenverteidiger in Ruhe lässt. Das würde auch helfen, die Bewegungen von Stindl und Kiyotake aufzufangen, sodass die hinteren Akteure nicht allzu weite Wege gehen müssen. So oder so hat man immerhin das Glück, dass die beiden sich auf der stärkeren Stuttgarter Seite tummeln. Klein wird dann womöglich eher gegen Kiyotake spielen und ihn bei Rückfallbewegungen oder beim Einrücken verfolgen, während Schwaab dahinter seine Mannorientierung vielseitig und etwas absichernder spielt.
Grundsätzlich ist wegen der konsequenten Stuttgarter Passivität, bei gleichzeitig guter Kompaktheit und Flügelverteidigung nicht die ganz große Durchschlagskraft bei Hannover zu erwarten. Dennoch verfügen sie mit ihrer flexiblen offensiven Rollenverteilung über gute Ansatzpunkte, die Stuttgarter Mannorientierungen zu bespielen. Ein paar gute Ansätze sind dementsprechend zu erwarten, wobei man abwarten muss wie effektiv diese am Ende werden.
Auf der anderen Seite könnte der VfB Hannovers Fokus auf das Zentrum nutzten, um von dort aus Konter einzuleiten. Wenn (hoffentlich) Romeu wieder in die Startelf zurückkehrt, hätte man nach Ballverlusten Hannovers oder auch nach langen Bällen einen enorm pressingresistenten Spieler für den ersten Umschaltpass. Anschließend könnte man Werner in Laufduelle gegen den (allerdings recht athletischen) Rechtsverteidiger Hiroki Sakai schicken, oder nach kurzen Verlagerungen in die Mitte den Durchbruch suchen. Man muss allerdings dazu sagen, dass der VfB im Umschaltspiel nach tiefen Ballverlusten große Probleme aufweist und sich gegen nicht völlig aufgelöste Defensivreihen häufig abdrängen lässt. Je nachdem, ob der VfB hier stärker auftritt als zuletzt gäbe es aber schon Möglichkeiten, über Konter zu guten Torchancen zu kommen.
Fazit
Beide Mannschaften verfügen durchaus über passende Werkzeuge, um gewisse Schwachstellen des Gegners zu attackieren. Abhängig davon, welche Mannschaft das besser macht, wäre eine leichte Überlegenheit eines der beiden Teams durchaus denkbar, wahrscheinlicher ist allerdings eine ausgeglichene Partie, in der sich keiner von beiden wirklich klare Vorteile erarbeiten kann. Dann werden wohl Kleinigkeiten entscheidend sein, Tagesform, Spielstand und Spielverlauf, vielleicht ein besonders effizienter Auftritt. Es wird auf jeden Fall eine spannende Angelegenheit und mit Blick auf die Tabelle auch eine besonders wichtige, sowohl für den VfB als auch für Hannover.
PS: Die Vorschau in andersrum findet sich auf Niemals Allein!
Ein großes Dankeschön für den Ideenaustausch und den tollen Text über 96!
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