Auslösen und Auffüllen
Schon in der vergangenen Saison bei Holstein Kiel hatte der neue VfB-Coach mit seinem revolutionären System für Furore gesorgt. Der Blickfänger von Walters Teams besteht darin, dass die Abwehrspieler im Aufbau sehr viel in Bewegung sind, in unterschiedliche Räume rochieren und dabei nicht selten die Positionen tauschen. Es gibt dabei kein fixes Positionsraster, sondern die Aufbaustruktur bewegt sich in einem Kontinuum, ohne willkürlich zu werden. Sie wird immer wieder umgeformt und so ergänzt, dass trotz der Dynamik ein passendes Netz an Passwegen entsteht. Klassische "Ergänzer" beim VfB sind Torwart Kobel sowie die breiten Achter, die bei Bedarf stets die Außenverteidiger-Räume auffüllen können. Die Außen- und Innenverteidiger machen beides: Auslösen und Auffüllen.
Mirko Slomkas Hannoveraner verteidigten diesen Stil zu Beginn relativ zonal in einem engen 4-3-3. Die drei Stürmer standen kompakt auf einer Linie und attackierten ansatzweise Spieler in den Innenverteidiger-Räumen (ich setze ab jetzt Anführungszeichen, wie bei "Innenverteidiger", wenn ich einen Spieler meine, der sich in einem Raum befindet, der für die angeführte Position in etwa typisch ist – unter dem Vorbehalt, dass es wie gesagt kein festes Positionsraster gibt). Wenn der Ball auf den Flügel wanderte, schob Hannovers Außenstürmer nach außen hinterher. Dort suchte 96 den Zugriff, indem die Außenverteidiger aggressiv mit attackierten (später machten das eher die Achter).
Mithilfe dieser vorerst offensiv umgesetzten Pressingidee fand Hannover einen guten Zugang in dieses Spiel. Unterstützt durch das zentrale Mittelfeld liefen sie phasenweise sogar ganz vorne an, machten viel Druck und erzwangen ein paar Ballgewinne. Bald zogen sie sich jedoch in ein Mittelfeldpressing zurück und tendierten mehr Richtung 4-5-1, wobei die Außenstürmer in ein 4-3-3 aufrücken konnten. Ein bisschen Liverpool-mäßig.
Stilvolles Flügelspiel
Für die Walter-Elf erwiesen sich zahlreiche austarierte ausweichende Bewegungen als das richtige Werkzeug, um in die Räume neben Hannovers Dreifachsechs zu gelangen. Beim VfB besetzten bis zu drei Spieler den Flügel (oft und hier exemplarisch: "Halbverteidiger", breiter Achter und ausweichender Mittelstürmer), sodass man dort neben der dynamischen Variante auch klassisch positionell Freiräume schaffen konnte. Baute der VfB über außen auf und hatten Hannovers Achter keinen Zugriff, geriet der 96-Außenverteidiger in ein Dilemma: Entweder blieb er beim Stürmer und ließ den Achter frei oder er attackierte den Achter und riskierte es, mit einem Linienpass überspielt zu werden.
Gelang das Aufrücken, setzte der VfB seine starken Abläufe über den Flügel fort. Die Offensivspieler kombinierten in überwiegend harmonischer Art ausweichende und einrückende Bewegungen miteinander, sodass an die Situation angepasste Dynamiken entstanden, ohne Verbindungen kaputtzumachen. Vor allem Didavis weite Rochaden auf die Flügel waren hierfür wichtig. Anderes Beispiel: Castro versuchte mehrmals von seiner breiten Position aus hinter Maina bzw. Haraguchi einzurücken, während der VfB im Sechserraum den Ball führte. Dafür ging Gomez dann meist auf den linken Flügel. Dank dieser ausgleichenden Bewegung konnte Hannovers Außenverteidiger nicht so einfach rausrücken und Castro hatte, sofern er den Pass bekam, sofort eine äußere diagonale Anspieloption.
Die Flügelangriffe konnte der VfB aber nicht so einfach mit kurzen Pässen tororientiert fortsetzen. Der ballferne Achter und Stürmer hielten sich betont breit und ließen die Verbindung zur lokalen Überladung abreißen. Diese Spieler standen nicht einfach isoliert rum, sondern versuchten die ballferne Schnittstelle zwischen Außen- und Innenverteidiger zu attackieren, zu kreuzen oder eine breite Verlagerungsstation zu bieten. Der VfB konnte dann entweder zur Grundlinie weiter kombinieren, sofern die Unterstützung reichte, oder über eine herausgespielten offene Stellung die eventuelle Lücke per langer Verlagerung, scharfem Querpass oder Halbfeldflanke überbrücken. Letztere Variante war beim 1:0 zu sehen, als Gomez im Anschluss an einen Ballgewinn im Gegenpressing eine zügige Hereingabe von Sosa verwandelte.
Hannovers Achter infiltrieren die Raute
Seinen Dominanzanspruch untermauerte der VfB mittels eines druckvollen und intensiven Angriffs- und Gegenpressings. Das Angriffspressing war im 4-Raute-2 organisiert, was gegen Hannovers 4-3-3 zumindest gegen den Sechser und die Innenverteidiger unkomplizierte Zuordnungen ermöglichte. Die Abwehr rückte fast bis zur Mittellinie vor und die Spitzen liefen bei Bedarf bis zum Torwart durch. Bei Pässen auf die zunächst freien Außenverteidiger schob der Achter raus und der Gegner wurde am Flügel kollektiv zugestellt.
In den nicht ganz so zwingenden Momenten konnte Hannover gegen dieses Zuschieben relativ zuverlässig Verlagerungen herausspielen und aufrücken. Haraguchi und Prib bewegten sich geschickt in den Schnittstellen zwischen Karazor und dem jeweiligen Achter, sodass sie entweder selbst frei wurden oder die Raute noch weiter zum Flügel schieben musste, um Zugriff zu erlangen, wodurch wiederum ballfern Räume entstanden. Punktuell hatten auch sie gute Wechselbewegungen mit drin. Tendenziell half das gelegentliche Rückwärtspressing von Gomez oder Al Ghaddioui gegen Hannovers Verlagerungen. Nicht selten verteidigte der VfB solche Situationen aber praktisch zu siebt und spekulierte auf den möglichen Konter mit drei Spielern vorne.
Passivität als Dosenöffner?
Nach den guten Ansätzen zu Beginn entwickelte der VfB in der zweiten Hälfte der ersten Halbzeit auch Durchschlagskraft, indem sie häufiger ins Umschalten kamen. Die Pressing- und Gegenpressing-Szenen, die vorher eher zu eigenen Ballbesitzphasen geführt hatten, resultierten nun häufiger in aussichtsreichen Kontern. Ein Grund dafür war vielleicht, dass der VfB kurzzeitig weniger aggressiv verteidigte und (wahrscheinlich unbeabsichtigt) eine scheinbare Passivität erzeugte, die Hannover zu unüberlegten Aktionen einlud. Die Zunahme an gefährlichen Ballgewinnen schien ansonsten aber an situationsabhängigen Kleinigkeiten zu hängen, die vielleicht oder vielleicht nicht systematisch zu ergründen sind.
Jedenfalls funktionierte insbesondere das Gegenpressing gut und die Dynamiken griffen auch im Umschalten (übrigens eine Eigenschaft, die einer Statik aus dem klassischen Positionsspiel typischerweise fehlt und diese weniger universell macht). Der VfB belohnte sich für sein griffiges Pressingverhalten und schoss ein 2:0 heraus. Neben dem Gomez-Tor versenkte Didavi einen Freistoß, den der VfB in einem Konter herausgeholt hatte. Ein kurioses Eigentor von Maxime Awoudja, der nach seiner verletzungsbedingten Einwechslung für Kaminski ein wackeliges Debüt feierte, verkürzte die Führung noch vor der Pause.
Am Ende Dominanz
Mit dem Rückstand konfrontiert verteidigte Slomkas Elf wieder höher und zugriffsorientierter, die Achter schlossen sich bei Gelegenheit der Anlaufbewegung an. Doch der VfB überspielte diese nicht immer top organisierten Pressingversuche selbstbewusst über seine Aufbaudynamiken. Weiterhin bekam 96 die gut herausgespielten Verlagerungen nicht in Torchancen umgewandelt. Stattdessen mussten sie mehrere Stuttgarter Konter schlucken, denn mit den offensiv ausgerichteten Achtern und einem aufrückenden Außenverteidiger hatte Hannover oft nur vier Spieler zur Absicherung übrig.
Über mutige Ballbesitz- und Konterangriffe dominierte der VfB die zweite Halbzeit, wobei der Platzverweis für Ostrzolek die Spiekontrolle natürlich vereinfachte. Da der VfB dennoch den Sack nicht zumachte, hätte es nach dem Platzverweis für Awoudja nochmal spannend werden können. Doch auch im 10 gegen 10 mit einem offensiv ausgerichteten 4-3-2 war der VfB noch torgefährlich und ließ gleichzeitig keine gegnerischen Abschlüsse mehr zu.
Fazit: Krass und komplett
Der VfB eröffnet die Saison mit einem überlegenen Sieg gegen den liebgewonnenen Mitabsteiger. Mindestens so beeindruckend wie das einzigartige dynamikbasierte Aufbauspiel ist die runde Spielanlage des VfB. Spielaufbau, Chancen rausspielen, Pressing, Gegenpressing, Konter, Standards – all das war gegen 96 gefordert. Und alles funktionierte.
Man kann gar nicht oft genug betonen, wie abgefahren dieser Fußball ist. Tim Walter schafft es, leidenschaftlichen Offensivgeist mit rationalen Prinzipien zu unterfüttern und bringt dadurch beides in Einklang. Das ist die wahre Revolution.
Wunderbar, ja. Aber unser Spiel ist auch vernünftig. Ich würde es als »Mut« bezeichnen. Oder wie viele dann sagen: Risiko. Aber Mut ist einfach das Vertrauen in seine eigene Stärke. Ich vertraue meiner Mannschaft und deshalb ist es vernünftig, was wir machen.
– Tim Walter, noch als Trainer bei Kiel
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Mit der Nutzung der Kommentarfunktion werden Formulardaten und möglicherweise weitere personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse) an Server von Google übertragen.
Datenschutzerklärung: https://www.vfbtaktisch.de/p/datenschutz.html
Datenschutzerklärung von Google: https://policies.google.com/privacy