Dienstag, 10. Februar 2015

UEFA-Cup Finale 1989: SSC Neapel - VfB Stuttgart 2:1

Das Hinspiel

In den Chroniken des VfB Stuttgart prangt es bis heute als größter internationaler Erfolg des Vereins - das umkämpfte und am Ende knapp verlorene UEFA-Cup-Finale 1989 gegen Diego Maradonas SSC Neapel. Das Hinspiel sorgte damals für viel Aufregung um den griechischen Schiedsrichter Germanakos, denn vor dem Handelfmeter gegen Günther Schäfer zum 1:1 war deutlich sichtbar die "Hand Gottes" im Spiel gewesen. Gegen Ende der Partie musste der VfB auch noch das 2:1, vorbereitet von Maradona, hinnehmen und die frühe Führung durch Maurizio Gaudino war dahin. Ein spektakuläres 3:3 im Neckarstadion reichte damit nicht mehr zum Titel. Ein kurzer Blick auf das umstrittene Hinspiel im Stadio San Paolo.

Grundformationen


Die Aufstellungen
Die Formation der Gäste war offensiv eine Mischung aus 4-3-3 und 4-3-1-2, in der Maradona als Spitze der Raute auflief. Flankiert wurde er von Andrea Carnevale und Careca, die beide Mischrollen hatten: Ersterer arbeitete von seiner hohen Grundposition aus viel in die Spitze und stellte ansonsten durch sein gelegentliches Zurückfallen im Defensivspiel ein flaches 4-4-2 her. Careca wechselte zwischen Sturmzentrum und Zehnerraum oder fiel sogar in tiefe Flügelzonen zurück, da auf seiner Seite mit Giancarlo Corradini der zurückhaltendere der beiden Außenverteidiger spielte und der Flügel daher nicht konstant besetzt war. Alternativ ging auch der offensivstarke Fernando de Napoli auf diesen Flügel, der ansonsten viele Vorstöße in andere Bereiche zeigte. Komplettiert wurde das Mittelfeld vom starken Balancesechser Luca Fusi und dem spielstarken Brasilianer Alemao. Dahinter formierte sich eine Viererabwehr mit Alessandro Renica als Libero hinter Vorstopper Ciro Ferrara.

Beim VfB fehlte Stürner Jürgen Klinsmann wegen einer Gelbsperre aus dem Halbfinale. Möglicherweise auch deswegen, aber wohl vor allem aus Respekt vor dem individuell überlegenen Gegner, setzte Arie Haan auf eine defensive Ausrichtung im 3-5-2/5-3-2. Vor Libero Allgöwer, der beim Aufrücken seine berüchtigte Schussgewalt einzubringen versuchte, spielten Guido Buchwald und Nils Schmäler als Manndecker gegen Napolis Sturmduo. Auf den Außenverteidigerpositionen wurden Michael Schröder und Günther Schäfer aufgeboten. Im Mittelfeld sollte die Doppelacht, bestehend aus Srecko Katanec und Islands Jahrhundertfußballer Asgeir Sigurvinsson, das Spiel nach vorne tragen, während Jürgen Hartmann die entscheidende Aufgabe zukam, Maradona aus dem Spiel zu nehmen. In vorderster Front ackerten Maurizio Gaudino und Fritz Walter.

Die Eselmauer


Der VfB setzte im eigenen Offensivspiel zunächst auf massive Linksüberladungen um Schröder, Gaudino, Sigurvinsson und den weit herüberschiebenden Katanec. Von dort sollte das Spiel dann über den nachrückenden Allgöwer oder die Mittelfeldspieler zentral weiterentwickelt, oder auf den aufrückenden Schäfer verlagert werden werden. Das funktionierte allerdings nur mittelmäßig, da sich die Stuttgarter früh auf den Flügel festlegten und weit außen an der Seitenlinie kombinierten, ohne dass sauberen Verbindungen ins Zentrum zustande kommen konnten. In den Eins-gegen-Eins-Duellen waren die meisten Stuttgarter zudem individuell unterlegen und überdies durch die Seitenlinie in ihren Optionen eingeschränkt. Außerdem wurde der rechte Halbraum nicht konsequent besetzt, sodass die Angriffe häufig nicht mehr kleinräumig weitergespielt werden konnten und meist der direkte Ball in den Strafraum oder die Verlagerung folgen musste. Dennoch kamen sie durch diese Angriffe zu etwas Offensivpräsenz und konnten den einen oder anderen Nadelstich setzen.

Eine andere Angriffsroute bestand aus Vorstößen Allgöwer, dem von seinen Kollegen gegen die manndeckenden Italiener bewusst Raum freigezogen wurde. So konnte er in der 17. Minute nach einem Ballgewinn bis zum Strafraum durchmarschieren und den Freistoß herausholen, den Gaudino mit freundlicher Mithilfe von Napoli-Keeper Giuliani zur schmeichelhaften 1:0-Führung versenkte.

Um den Angriffen der Italiener wiederum standzuhalten nutzte die Haan-Elf strikte Manndeckungen gegen das gegnerische Offensivtrio - Buchwald gegen Careca, Schmäler gegen Carnevale, Hartmann gegen Maradona. Die Außenverteidiger blieben zunächst passiv, fingen dann aber vorstoßende Gegenspieler flexibel auf und manndeckten diese, wenn sie sich in ihren Verantwortlichkeitsbereich bewegten. Dadurch spielte dann häufig Schäfer gegen den sehr offensiven Francini und Schröder gegen de Napoli. Allgöwer, Sigurvinsson und Katanec waren folglich die freien Spieler, die ihren Kollegen den Rücken freihalten und Lücken stopfen sollten.

Es zeigte sich bereits früh im Spiel, dass diese Strategie nicht ideal aufging. Einerseits offenbarten sich die klassischen Schwächen der Manndeckung - es entstanden viele Eins-gegen-Eins-Duelle und nach verlorenen Zweikämpfen gab es wenig Absicherung, sodass die Hausherren anschließend oft bis zum Sechzehner durchlaufen konnten. So lockte beispielsweise Careca seinen Gegenspieler Buchwald einige Male in sehr unangenehme Duelle weit draußen auf dem Flügel. Ergänzend dazu öffneten sie mit ausweichenden Bewegungen bewusst Dribbelkanäle für ihre Mitspieler, wobei sich dabei vor allen Dingen der argentinische Superstar Maradona hervortat.

6. Minute: De Napoli erhält den Ball und wird von Katanec zu seitlich angelaufen. Daher kann er ihn einfach aussteigen lassen und in den von Maradona und Careca geöffneten Raum hineindribbeln. Hartmann versucht noch einzugreifen, rutscht aber bei der abrupten Richtungsänderung weg. Schäfer kann de Napoli gerade noch so mit einem Foul an der Strafraumgrenze stoppen.

Um mehr Stabilität in das rigide Manndeckungssystem zu bringen, hätte der VfB mehr Absicherung im Mittelfeld benötigt. Gerade Katanec erwischte aber einen schwachen Tag, stellte sich in den Zweikämpfen zu ungeschickt an, spielte zu aggressiv und konnte damit wenig zur Stabilisierung des Kollektivs beitragen. Auf der anderen Seite positionierte sich der damals 34-jährige Sigurvinsson zu weit außen, um Zugriff auf's Zentrum zu bekommen. Darüber hinaus war auch seine individuelle Defensivbeteiligung sehr schwankend, womöglich auch aufgrund seines Alters (und seiner Offensivspielernatur sowieso).

10. Minute: Noch ein Beispiel aus der Anfangsphase: Sigurvinsson und Katanec schieben zwar engagiert herüber, entwickeln aber keinen Zugriff. Careca hat hier den Ball von de Napoli erhalten, der seinen Lauf fortsetzt und von Schröder aufgenommen wird. Buchwald steht damit allein gegen Careca, weil Hartmann wie in der obigen Szene von Maradona aus dem Weg geräumt wird. Der Brasilianer entscheidet das Duell für sich und kommt aus 18 Metern zum Abschluss.

Das klingt nun vielleicht so, als hätte der VfB ein Tor nach dem anderen kassieren müssen. Dazu kam es aus mehreren Gründen nicht:

Zunächst einmal sorgte die sehr defensive Grundausrichtung dafür, dass am eigenen Strafraum kaum Freiheiten für den Gegner entstanden. Selbst wenn mal ein Azzurri etwas Platz bekam, sah er sich frühestens an der Sechzehnergrenze dem aufmerksamen Karl Allgöwer und der zwar größtenteils gebundenen, aber dennoch präsenten und eng stehenden Defensivreihe gegenüber, wodurch sie selten zu sauberen Abschlüssen kamen. Auch lange Bälle von Renica waren durch die tiefe Verteidigungsreihe weitestgehend wirkungslos. Insgesamt war die Endverteidigung der Schwaben stark und konnte einige gefährliche Angriffe noch entschärfen, indem sich die Manndecker rechtzeitig von ihrem Gegenspieler lösten, oder Allgöwer noch eingriff.

In diesem Kontext ist auch die herausragende Defensivarbeit der beiden Angreifer zu loben. Ergänzend zu der tiefen Stellung der Mannschaft reihten sich Gaudino und Walter etwa auf Höhe der Mittellinie auf und visierten von dort aus immer wieder Lücken im eigenen Defensivverbund an und verfolgten aufrückende Gegenspieler - zur Not bis an den eigenen Strafraum. Dieses Rückwärtspressing dosierten und timten sie gut, sodass sie im Mittelfeld ein paar Mal effektiv helfen konnten, Napolis Vorrücken zu stören.

Stuttgart stabilisiert sich


Nach der Führung verlor der VfB immer mehr an Gefährlichkeit in den eigenen Offensivszenen und auch die Spielanteile nahmen ab. Sigurvinsson fiel nun im eigenen Ballbesitz tief aus dem Mittelfeld zurück und übernahm den ersten Pass im Spielaufbau. Er fehlte damit jedoch als halblinker Verbindungs- und Kreativspieler, was zusammen mit dem nachlassenden Aufrücken dafür sorgte, dass kaum noch konstruktive Angriffe zustande kommen konnten.

Napoli selbst wurde nach der starken Anfangsphase ebenfalls ein wenig ungefährlicher. Der Hauptgrund dafür war, dass die Stuttgarter sich defensiv steigerten und die oben schon angeführten Stärken deutlicher zeigten. Auf der anderen Seite kamen noch einige Kleinigkeiten bei Napoli dazu, zum Beispiel wurden ihre sonst guten Staffelungen vereinzelt zu statisch, zu hoch und zu eng, sodass sich die Verantwortlichkeitsbereiche der Stuttgarter Manndecker überlappten und sie sich damit einfacher gegenseitig helfen konnten. Außerdem nutzten sie im Aufbau verstärkt lange Bälle, was gegen die tiefe VfB-Abwehr eher ineffektiv war. Da die Italiener nicht besonders intensiv auf zweite Bälle gingen, landeten diese oft beim VfB, der anschließend aber übertrieben hektisch wurde und die Bälle unüberlegt wegdrosch oder zu schnell nach vorne brachte, wo Neapel dann komfortabel in Überzahl verteidigen konnte. Zumal Fritz Walters 1,72m im Luftduell nicht übermäßig weiterhalfen.

Crippa und das letzte Vorbeben


Dem Spielstand entsprechend wechselte Neapels Trainer Ottavio Bianchi zur Pause offensiv: Für den defensiven Rechtsverteidiger Corradini kam Mittelfeldspieler Massimo Crippa ins Spiel. Alemao spielte fortan rechts hinten, Fusi rückte auf die Sechs und Crippa übernahm die halblinke Acht und interpretierte sie offensiver als sein Vorgänger.

Die Gastgeber erzeugten mit den höheren Achtern und Alemao als nachrückendem Außenverteidiger nun deutlich mehr Offensivpräsenz und versuchten die gegnerische Abwehr zu überladen. Darüber hinaus wechselten sie ihren Fokus auf die Flügel: Maradona ging nun weit auf die Seiten und zog Hartmann damit aus der zuvor engen und schwer bespielbaren Mitte heraus. Darüber hinaus erzeugte der eingewechselte Crippa gute Synergien mit seinem Linksverteidiger: Er spielte auf der Acht sehr breit und hoch, womit er Schäfer an der Seitenlinie band, sodass Francini oder sogar Ferrara vor ihm diagonal durchstoßen konnten. Das neue Bewegungsspiel der drei stellte die Zuteilung von Stuttgarts rechter Abwehrseite vor neue Aufgaben und lockerte das Zentrum ein wenig auf. Ähnliches passierte später auf dem anderen Flügel mit Alemao, de Napoli und Careca. Diese neuen Dynamiken sorgten, zusammen mit der insgesamt aggressiveren Ausrichtung Neapels, für einen dominanten Start in Hälfte zwei.

55. Minute: Die Konstellation nach einem Einwurf Neapels. Mehrere Aspekte sind bemerkenswert:
  • Maradona ist weit auf den Flügel ausgewichen, was Hartmann aus dem Zentrum herauszieht (rot). Deshalb können die Gastgeber eine massive Überzahl auf der halbrechten Seite herstellen (grün).
  • Schäfers Zuordnung ist uneindeutig. Er könnte sowohl den vorstoßenden Ferrara, als auch seinen eigentlichen Gegenspieler Crippa übernehmen. Die Szene endet letztlich dergestalt, dass Hartmann sich von Maradona löst und den ungedeckten Ferrara aufnimmt, während Schäfer verwirrt im Raum stehen bleibt, bis sich Maradona in seinen Dunstkreis hineinbewegt.
  • die außergewöhnliche Rückwärtsarbeit von Walter und Gaudino

Die Konterräume, die sich andererseits vor Neapels Abwehr ergaben, konnte der VfB nur selten nutzen. Die hohe gegnerische Offensivkompaktheit im Zentrum sorgte dafür, dass die Stuttgarter kaum mehr Zeit am Ball bekamen und sich mit unkontrollierten langen Bällen befreien mussten. Ein paar wenige Ansätze mit neuem Fokus ergaben sich trotzdem: Walter und Gaudino rückten zusammen mit Sigurvinsson nach rechts, und attackierten dort die offenen Räume im Mittelfeld. Allerdings fehlte ihnen in den wenigen Konterszenen die letzte Zielstrebigkeit und die Situationen verpufften.

So kam es, wie es kommen musste - die pure Quantität von Napolis Angriffen sorgte doch noch dafür, dass sich ihre Feldvorteile auch im Ergebnis niederschlugen.

Die beiden Duelle gegen Diego Maradona und den SSC Neapel waren dann natürlich zwei absolute Highlights und objektiv betrachtet waren wir natürlich die unterlegene Mannschaft. Trotzdem sind wir im Hinspiel benachteiligt worden. Maradona hat bei uns im Strafraum den Ball mit der Hand mitgenommen. Die Hand Gottes – mal wieder. Dann hat er Günther Schäfer den Ball an den Arm geschossen und der Schiedsrichter entschied auf Strafstoß. Da hätte das Spiel schon längst unterbrochen sein müssen. Maradona hat den Elfer dann sogar noch selbst reingeschossen und die Stimmung ist gekippt. Plötzlich waren 80.000 Zuschauer gegen uns, denn wir hatten bis dahin mit 1:0 geführt. Danach war der Druck gewaltig und kurz vor Schluss haben wir noch das 1:2 hinnehmen müssen.
- Karl Allgöwer, 2013

Zwischen den beiden Toren hatten beide Trainer noch einmal umgestellt. Um nochmal Unordnung zu stiften rückte bei den Azzurri Alemao wieder ins Mittelfeld, sodass der rechte Flügel wieder situativ von Careca und de Napoli bespielt wurde. Auf der anderen Seite nahm Arie Haan den erschöpften Fritz Walter vom Feld und brachte mit Rainer Zietsch einen weiteren Sechser. Fortan versuchten die Schwaben mit vier Mittelfeldspielern das Zentrum zu vernageln. Allerdings half das nicht mehr, die drohende Niederlage zu verhindern - zu groß war der Kräfteverschleiß gewesen und zu wenig Entlastung gab es in der Endphase.

Schlussbemerkungen


Das war der absolute Höhepunkt. Das Ansehen der Mannschaft war so hoch wie nie. Eine Meisterschaft ist ja nur national, aber in dem Wettbewerb haben wir gegen europäische Spitzenmannschaften gespielt. Damals war der Uefa-Cup auch noch viel wichtiger als die heutige Europa League.
- Karl Allgöwer, 2013

Letztlich war es wie ewartet Maradona, der sich zur prägendsten Figur des Spiels entwickelte. Nicht wegen dem Elfmeter und in erster Linie auch nicht wegen seiner technischen Brillanz, sondern weil er den Fokus auf seine Person nutzte, um seinen Kollegen Freiheiten zu verschaffen. Sein kleinräumiges Freiziehen von Kanälen in der ersten und sein weiträumiges Ausweichen in der zweiten Halbzeit waren die Hauptquellen von Napolis Torgefahr, auch wenn daraus kein direkter Treffer entstand. Das wiederum lag vor allem an der taktisch nicht überwältigenden, aber mit unbändigem Willen und viel Herz kämpfenden Stuttgarter Mannschaft. Beinahe hätte das zur Sensation gereicht; angesichts von 17 zu 3 Schüssen auf's Tor und 11 zu 0 Ecken für die Italiener konnte allerdings auch der hartgesottenste VfB-Fan anno 1989 nichts gegen die Angemessenheit der Niederlage einwenden.

Wie es den Schwaben im Rückspiel gelang, drei Tore zu erzielen und warum das trotzdem nicht zum Titelgewinn reichte, dem widmen wir uns ein andermal.

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