Samstag, 17. Dezember 2016

CL 2003/04: VfB Stuttgart - Manchester United 2:1

Wie die Jungen Wilden Europa eroberten.

Vorgeschichte


Seit Felix Magath den kriselnden VfB 2001 von Ralf Rangnick übernommen hatte, stabilisierte sich der Verein allmählich und kehrte gar in die Spitzengruppe der Bundesliga zurück. Es war die Ära der „Jungen Wilden“, von Spielern wie Hinkel, Kuranyi, Hildebrand und Hleb. Taktisch etablierte sich nach der Amtsübernahme von Magath die Viererkette, während der Manndeckung in Form einer starren „Nummerndeckung“ endgültig der Rücken gekehrt wurde – wenngleich gewisse mannorientierte Elemente immer noch auftauchen sollten.

Nach der überraschenden Vizemeisterschaft 2002/03 zog der VfB in die Gruppenphase der Champions League ein. Das erste Gruppenspiel verlor man im Ibrox Park 1:2 gegen die Glasgow Rangers. In der Bundesliga lief es dagegen blendend: In den ersten 7 Spielen holte Stuttgart 5 Siege und 2 Unentschieden ohne ein einziges Gegentor zu kassieren. Es war der Zeitraum, in dem Timo Hildebrand seinen bis heute unerreichten Minuten-ohne-Gegentor-Rekord in der Bundesliga aufstellte. Am Saisonende sollte der VfB nur 24 Gegentore in der Liga kassiert haben – die zweitwenigsten hatte Meister Werder Bremen mit ganzen 38! Die zugrunde liegende defensive Stabilität erwies sich gegen den haushohen Favoriten aus Manchester als essenziell.

Gute Abwehrarbeit des VfB


Formativ stellte sich das beim VfB als 4-3-1-2 dar. In der Viererkette wurden die defensivstarken Abwehrrecken Meira und Bordon von den jungen Lahm und Hinkel flankiert. Davor kontrollierte der damals 35-jährige Zvonimir Soldo einmal mehr den Raum. Jurica Vranjes agierte als defensiverer der beiden Halbspieler, während der achterhafte Flügeldribbler Hleb diese Position ebenfalls problemlos spielen konnte. Auf der Zehn begann Routinier Horst Heldt, von dem nicht allzu viele kreative Impulse ausgingen, der aber mit seiner Laufstärke und Intelligenz entscheidende Defensivbeiträge leistete. Als Doppelsturm bot Magath den bewegungsstarken Szabics neben Zielspieler Kuranyi auf.

Diese Rautenformation funktionierte gegen den Ball exzellent. Grundsätzlich wechselten sich beim VfB hohe Intensität und Erholungsphasen ab. Im ersteren Fall verteidigte der VfB im 4-3-1-2, welches zwar sehr tief, aber für die damalige Zeit auch aktiv interpretiert wurde. Es gab viele herausrückende Bewegungen von allen Positionen aus, welche Zugriff erzeugen sollten und zum Teil an Mannorientierungen geknüpft waren. Das zeigte sich unter anderem bei den Außenverteidigern, die immer wieder in die Freiräume neben der Raute herausschoben. Gerade der offensiv denkende Hinkel verteidigte auf diese Art effektiv den damals noch nicht so durchschlagskräftigen Ronaldo, indem er ihn immer wieder bereits bei der Ballannahme bedrängte.

Ein wichtiger Punkt war, dass diese Herausrückbewegungen vom Kollektiv sehr gut abgesichert wurden. Die Mechanismen funktionierten gut und wurden aufmerksam umgesetzt. Vor allem Soldo schloss immer wieder Lücken, die seine Kollegen hinterließen. In der hohen Grundkompaktheit der Raute war das außerdem leicht zu bewerkstelligen, was vor allem dem nicht mehr allzu dynamischen Kroaten zugute kam. Dazu kam, dass Kuranyi und vor allem Szabics einige Male gut getimt ins Rückwärtspressing gingen und dadurch Räume zusätzlich verengen und Bälle erobern konnten. Somit verfügte der VfB in seinen besten Phasen über eine extreme Kompaktheit bei guter Abstimmung, was für hohe Stabilität und Ballgewinne sorgte.

Der VfB steht extrem tief und stabil. Szabics hatte zuvor im Mittelfeld ausgeholfen und läuft jetzt den Rückpass auf Keane zu. Scholes findet zwar Raum, wird aber von Heldt in den Deckungsschatten genommen, womit effektiv auch die ganze rechte Seite Uniteds abgeschnitten ist. Hinkel kann außerdem mannorientiert auf Giggs herausrücken, da ManU die Präsenz auf dieser Seite fehlt. Kuranyi erobert den Ball im Rückwärtspressing gegen den optinoslosen Neville.

Die andere Variante, die vor allem dann ausgepackt wurde, wenn United über den Flügel aufrückte war ein flaches 4-4-2, das dadurch hergestellt wurde, dass Heldt sich neben Soldo zurückfallen ließ (selten machte das sogar Szabics). In dieser Formation konnte der VfB die Flügel schließen, ohne im Verschieben allzu weite Wege gehen zu müssen. Außerdem schützte sich der VfB so vor weiten Verlagerungen, die bei einer Raute ja immer ein Thema sind. Zwar gingen bei dieser Umformung durchaus Räume im Zentrum auf, aber dafür konnte der VfB auf den Flügeln doppeln und so verhindern, dass Manchester die unerfahrenen Außenverteidiger ins Eins-gegen-eins verwickeln konnte. Als zusätzliche Unterstützung schob der ballnahe Innenverteidiger häufig bis zur Seite durch und sicherte ab. Die Flügel waren damit weitestgehend dicht.

Die Scholes-Asymmetrie und Magaths Absicherung


Alex Ferguson entschied sich seinerseits für ein asymmetrisches 4-2-3-1 mit einer interessanten Rollenverteilung. Paul Scholes startete als Rechtsaußen, spielte aber eher wie ein Sechser und stieß sehr gezielt in höhere Räume vor. Links begann der damals 18-jährige Cristiano Ronaldo, während Giggs als Zehner auf die Flügel rochierte und im Wechsel mit van Nistelrooy und Gary Neville den vakanten rechten Flügel besetzte.  Vor allem in der Anfangsphase gelang es Giggs so vereinzelt einen VfB-Außenverteidiger zu binden und Raum für Scholes oder Ronaldo zu öffnen.

Schon bald zeigte sich, dass in Uniteds Angriffsspiel eine Seite deutlich stärker war, als die andere. Rechts brillierte Paul Scholes mit hervorragend getimten Vorstößen in die kleinen Zwischenräume in Stuttgarts Formation. Nach Ablagen oder Vertikalpässe aus der Abwehr, konnte er so das Spiel durchs Zentrum nach vorne tragen. Dazu passte, dass Hleb offensiver spielte als Vranjes und eher mal Räume im Mittelfeld preisgab. Links gab es dagegen Probleme, weil die Gäste zu wenig Anspielstationen im linken Halbraum schufen und die Raumbesetzung statisch wurde. Giggs rochierte einige Male zu weit raus und fehlte dann in jenem Raum, den Stuttgart bei der 4-4-2-Umformung preisgab. Außerdem waren O'Shea und Phil Neville sehr defensiv unterwegs. United hatte eben nur einen Scholes.

Defensiv stand Manchester aber ähnlich stabil wie der schwäbische Kontrahent. Sie formierten sich in einem 4-4-2, das noch kompakter war als das des VfB, was auch dadurch möglich war, dass ihnen der Umformungsmechanismus vom 4-3-1-2 fehlte. Ein wichtiger Unterschied war außerdem, dass Uniteds Pressingspitzen nicht an das Mittelfeld heranrückten und sich eher für Konter bereithielten. Das heißt, der VfB konnte den Ball relativ ungestört um die gegnerische Formation herum laufen lassen. Die Zwischenräume waren jedoch tabu. Dementsprechend ließ sich der Nicht-Zwischenraumspieler Heldt auch eher vor die Mittelfeldreihe fallen und suchte von dort aus zusammen mit Hleb und den aufrückenden Außenverteidigern eher zum Flügel gerichtete Angriffsrouten.

Die Art und Weise, wie der VfB seine Angriffe ausspielte, war wieder vom Gedanken der defensiven Stabilität geprägt. So trat der VfB eher vorsichtig auf und versuchte stets, viele Spieler hinter dem Ball zu behalten. Das zeigte sich zum Beispiel daran, dass das Mittelfeld ausweichende Läufe von Szabics und Kuranyi nur ärmlich unterstützte und die beiden folglich leicht zu isoliert waren. Dafür hatte der VfB kurze Wege zurück in die Formation. Die Offensivspieler setzten nach Ballverlust außerdem vergleichsweise intensiv und in den richtigen Momenten nach. Heldt und die beiden Spitzen nahmen dem Gegner auf diese Weise Optionen und bremsten Konterangriffe aus.

Das Zocken von Uniteds Stürmern war gegen diese geballte Absicherung zur Wirkungslosigkeit verdammt. Auf der anderen Seite limitierte der VfB aber seine offensiven Möglichkeiten. Der Strafraum war fast durchgängig nur mit zwei Spielern besetzt, der Raum zwischen Uniteds Mittelfeld- und Abwehrline fast gar nicht. Allenfalls über die linke Seite mit Lahm und Hleb zeigte sich mal ein Schuss Kreativität. Hlebs Dribblings waren die mit Abstand effektivste Waffe der Stuttgarter in diesem Spiel. Im Zusammenspiel mit dem beweglichen Szabics und Lahm als breite Option ergaben sich hier noch die besten Szenen für den VfB in der ersten Halbzeit. Die klaren Durchbrüche fehlten aber und es blieb bei eher aussichtslosen Flanken und Weitschüssen. Auch Konter gab es durch den Stabilitätsfokus kaum.

Weiterer Spielverlauf


Dass beide Mannschaften den jeweils defensivstarken Gegner nicht so recht knacken konnten, war aus Sicht des VfB schon ein großer Erfolg. Dass sie obendrauf noch zwei schnelle Tore nach der Halbzeitpause schossen, war allerdings auch ein wenig glücklich. Das erste Tor fiel nach einem langen Ball nach halblinks, auf den ManUs Viererkette völlig unkompakt nachschob. So konnte Heldt mit einem cleveren Lauf Ferdinand irritieren und Szabics marschierte unbehelligt in die absurde Lücke zwischen den Innenverteidigern. Wenig später fiel das 2:0 durch einen schönen Gleichzahlkonter, als United mit mehr Offensivpräsenz reagiert hatte, sich aber einmal mehr an Stuttgarts Kompaktheit die Zähne ausbiss. Den Rest kennt man vom legendären Kommentar von Werner Hansch.

Nach dem 2:0 versuchte Scholes das Spiel immer mehr an sich zu reißen. Er war nun kaum mehr auf seiner rechten Seite zu finden, sondern driftete weit ins Zentrum und machte das Spiel. Dadurch war zwar der rechte Flügel teilweise gar nicht mehr besetzt, was es dem VfB erlaubte, sich noch enger zusammenzuziehen, doch der Zugriff auf Manchesters Schaltzentrale ging deutlich zurück. Der VfB wurde, auch durch verstärktes Aufrücken der Gäste und leicht abnehmende eigene Intensität weiter hinten gedrängt und sah nur noch wenig vom Ball. Ferguson wechselte außerdem passend und brachte Quinton Fortune als offensivfreudigen Linksverteidiger für O'Shea.

Fortunes diagonale Dribblings füllten endlich das Loch in ManUs linkem Halbraum und ergänzten sich gut mit Ronaldos breiter Rolle. Der portugiesische Flügelstürmer kam nun etwas besser ins Spiel und hatte noch mehrere, allerdings eher aussichtslose Abschlüssen aus der Distanz. Später stellte Ferguson nochmal um, vermutlich wegen dem unbesetzten rechten Flügel, und stellte Ronaldo nach rechts, Giggs nach links und Scholes übernahm die Rolle als Zehner. Zwar blieb der VfB weitestgehend stabil, aber die höhere Offensivpräsenz der Engländer wurde zumindest mit van Nistelrooys Elfmetertor belohnt. In der vorausgegangenen Szene hatte ManU einfach mal eine 4-gegen-2-Überzahl im Fünfer (!) gehabt.

Wichtig war in der Folge, dass der VfB nicht ängstlich wurde, sondern durchaus seine Aktivität beibehielt und zielstrebig die Konterräume des Gegners ausnutzte. Eine Szene in der 78. Minute, die zum verschossenen Meira-Elfmeter führte, ist dafür ein schönes Beispiel, als der eingewechselte Linksverteidiger Heiko Gerber aufmerksam und riskant gegen Gary Neville herausrückte. Erstmal gemütlich zurückfallen lassen und das Pressing einstellen, wie man es heute vom VfB kennt, war damals nicht. In den Schlussminuten gab es außerdem eine nette Szene, in der sich der VfB (nicht ohne Risiko) bemühte, den Ball über Kurzpässe in den eigenen Reihen zu halten, anstatt den Ball hektisch nach vorne zu bolzen, wie es manche vielleicht auch machen würden, wenn man gegen Manchester United 2:1 vorne liegt und nur noch ein paar Minuten zu spielen sind. Es war diese Mischung aus disziplinierter Defensivarbeit und jugendlicher Umbekümmertheit, mit der sich die Jungen Wilden unsterblich machten.

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