1. Halbzeit |
Nach den von der Öffentlichkeit
naturgemäß unterschiedlich aufgenommenen Unentschieden gegen die
Niederlande und Lettland ging es für Deutschland im letzten Spiel
der Gruppenphase gegen die bereits sicher als Erster fürs
Viertelfinale qualifizierten Tschechen. Da die Niederländer im
Parallelspiel gegen Lettland klarer Favorit waren (und auch nach 35
Minuten bereits 2:0 vorne lagen) war klar, dass Deutschland das Spiel
gewinnen musste um weiterzukommen. Tschechien schonte in diesem Spiel
praktisch sämtliche Stammspieler. Einzig Tomas Galasek zählte aus
dieser Elf unbestreitbar zur ersten Garde.
Deutschland bestritt die erste Halbzeit
in einer spannend besetzten und interpretierten 3-4-2-1-Formation.
Vorne begann mit Kuranyi ein klassischer Neuner. Dahinter starteten
Bernd Schneider und Michael Ballack als Doppelzehn, wobei Ballack
viel in den Achterräumen unterwegs war und Schneider vor allem die
Interaktion mit Kuranyi suchte. Auf der Sechs agierten Liverpools
Dietmar Hamann und – damals ja eigentlich noch überwiegend auf dem
Flügel eingesetzt – Bastian Schweinsteiger in einer klaren
Sechser-Achter-Aufteilung. Die Flügelverteidigung bildeten Philipp
Lahm und Torsten Frings. In der Abwehr spielten Arne Friedrich (in
seiner Paraderolle als rechter Halbverteidiger), Jens Nowotny und
Christian Wörns.
3-4-2-1-Mittelfeldpressing mit einem Schuss Achziger
Im Pressing stand Deutschland damit vor
allem im Zentrum sehr dicht. Aus ihrer kaum mannorientierten
Grundstellung konnten sie situativ ausschwärmen und Druck auf die
Flügel oder auch auf Innenverteidiger und Torwart machen. So
schoben die Halbzehner gelegentlich auf Tschechiens tief angebundene
Außenverteidiger heraus und stellten gleichzeitig die Optionen ins
Zentrum zu. Zwischen den Zehnern konnte der defensivstarke
Magath-Schüler Kuranyi ins Rückwärtspressing gehen. Auf den
Flügeln rückten Frings und Lahm aggressiv gegen die Flügelspieler
der Tschechen heraus und liefen teilweise sogar bis zum
Außenverteidiger durch, wenn ihr Vordermann gerade nicht zur Stelle
war. So weit war das 3-4-2-1-Pressing ähnlich organisiert wie zeitgenössische Varianten.
Der größte Unterschied zu heute lag
(neben der logischerweise niedrigeren Intensität) wohl im Verhalten
der Dreierkette, die tatsächlich noch recht altmodisch daherkam.
Anstatt ballorientiert auf die Seite mitzuschieben, blieben die drei
Verteidiger oft zentral vor dem Strafraum. Das war speziell auf
links der Fall, weil die Dreierkette asymmetrisch formiert war und
etwas nach rechts gerückt dastand (siehe Formationsgrafik). Das
heißt: Friedrich sicherte Frings besser ab als Wörns Lahm. An sich
war die Dreierkette auch nicht wirklich eine Kette, sondern ähnelte
schon ein wenig der 1-2-Aufteilung mit einem Libero hinter zwei
Vorstoppern in den Manndeckungssystemen der 80er. Neben seinen
Vorstößen und langen Bällen versprühte Nowotny auch mit seinem
absichernden Zurückfallen zweifellos einen gewissen Libero-Flair.
Von Manndeckern kann man bei den Halbverteidigern wiederum nicht
sprechen.
Die Räume hinter Frings und vor allem
hinter Lahm wurden seitens der Tschechen oft von
peripheren (und daher schwer zuzuordnenden) Spielern angesteuert, vor
allem vom ausweichenden Zehner Marek Heinz. Vereinzelt tauchten auch
Jiranek oder Tyce in diesen Räumen auf. Solche Läufe mussten oft
umständlich aus dem Mittelfeld verteidigt werden. Besonders
Schweinsteiger hatte als linker Sechser große Räume abzudecken. Er
bewegte sich zwar gut in die Gefahrenbereiche, sicherte auch
regelmäßig Lahm ab, wenn dieser in die Mitte oder nach vorne
verteidigte, kam aber aufgrund seiner fehlenden Dynamik nicht immer
in die Zweikämpfe. Zumindest gelang es aber Ballack, Kuranyi und
Schneider die folgenden Lücken im Mittelfeldzentrum rasch zu
stopfen, sodass Tschechien der Rückweg ins Zentrum genommen wurde.
Mit Hamanns Unterstützung konnten die drei Abwehrrecken dann das
Allermeiste wegverteidigen. Hier profitierte Deutschland davon, dass
Tschechien äußerst zögerlich nachrückte. Die Außenverteidiger
standen tief. Nicht selten mussten vier Tschechen gegen sieben
Deutsche die Angriffe zu Ende bringen.
Variables Ballbesitzspiel
Da die Tschechen mit wenig Ambition ins
Spiel gingen, hatte Deutschland entsprechend viel vom Ball.
Tschechien ging kaum auf zweite Bälle und konzentrierte sich extrem
auf die Kompaktheit im Mittelfeld. Im 4-2-3-1 war der Zehner tief
angebunden und die Flügelspieler pressten immer wieder von außen
auf die Halbräume drauf und rannten wieder zurück auf ihre
Position, wenn der Pass in ihren Rücken kam (vor allem Vachousek
präsentierte sich laufstark). Dadurch war die Kompaktheit der Tschechen auf
einem, für diese Zeit, hohen Niveau.
Deutschland hielt mit einem
vielseitigen Ballbesitzspiel dagegen, mit vielen Positionswechseln,
bei dem Schneider, Ballack und Schweinsteiger immer wieder in den
offensiven Halbräumen auftauchten und weite diagonale Rochaden und
Kreiselbewegungen zeigten. So zog es Schneider immer wieder nach
halblinks, wo er um Kuranyi herumschwirrte. Ballack ließ sich mehr in den Aufbau zurückfallen und war ansonsten um Lahm
herum, in den offensiven Halbräumen und natürlich im Strafraum
präsent. Schweinsteigers Bewegungen waren im Vergleich etwas diagonaler und
gingen kaum bis in den Sechzehner durch. Im Gegensatz zu Ballack
rochierte er auch mal bis auf die offensiven Flügelpositionen. Oft
balancierte er Ballacks Zurückfallen. Seine gute Orientierung in den Räumen erinnerte bereits an den Schweinsteiger aus der jüngeren Vergangenheit.
Auch im Spielaufbau war der 19-jährige
Schweinsteiger überraschend nah dran an dem Spieler, der Jahre
später erst auf dieser Position zur Weltklasse aufsteigen sollte.
Strategisch war bereits eine Menge Ambition und Qualität zu
erkennen: Schweinsteiger lenkte den Aufbau auch in schwierigen Szenen
in die richtigen Räume. Deutschland konnte allerdings noch von
weiteren Positionen das Spiel eröffnen. Arne Friedrich (seltener
auch Nowotny) ging mit Ball oft in die schematische Lücke halbrechts
und trieb die Bälle druckvoll durch den Halbraum. Etwas seltener tat
Wörns das selbe auf links. Das Interessante daran war, dass alle
drei Verteidiger nach ihren Vorstößen erst mal vorne blieben und
sich in die Offensivräume einsortierten, anstatt gleich auf ihre
Position zurückzulaufen. So schufen sie Präsenz im Strafraum und
sorgten für überraschende Zusatzverbindungen.
Abgesichert wurde diese bewegliche
Spielanalage vor allem von Hamann und den Flügelverteidigern. Obwohl
Hamann ebenfalls ein guter Stratege war und den einen oder anderen
Ball zwischen die Linien brachte, konzentrierte er sich in diesem
Spiel vor allem auf die Absicherung und versuchte Raum für die
Kollegen zu öffnen. Lahm und Frings machten wenig Druck auf die
letzte Linie und blieben überwiegend halbhoch und breit, um zwischen
Tschechiens Außenverteidiger und Flügelspieler für Verlagerungen
anspielbar zu sein. So bekam vor allem Frings viele Bälle im Raum
hinter Vachousek.
Gute Ansätze, wenig Durchschlagskraft
Zwar war Deutschlands Aufbauspiel
insgesamt durchaus sehenswert, sie schafften es aber zunächst selten
mit ihren Abläufen bis zum Strafraum durchzukommen. Teilweise waren
sie in ihren Bewegungen nicht konsequent genug und gingen nicht klar
genug in die geöffneten Räume hinein. Zudem war das Bewegungsspiel
der deutschen Elf ein wenig zerstückelt mit Gruppen von lediglich
zwei bis drei Spielern, die konkret miteinander interagierten. Der
Rest der Mannschaft schloss sich träge oder gar nicht an bereits
begonnene Aktionen an. Exemplarisch dafür forderte Ballack einige
Male im offensiven Halbraum unnötig den Ball, anstatt sich etwa für
den Pass in der Tiefe anzubieten. Dazu kam dann noch, dass bei
Deutschland kein einziger Spezialist für enge Räume auf dem Platz
und auch wenig gute Dribbler, die auch mal mit Ball in die von
Schweinsteiger oder Ballack aufgezogenen Räume hineingehen konnten.
Tschechiens Mittelfeldkompaktheit
reichte daher, um die deutschen Kombinationsansätze konstant zu
verteidigen. Das gelegentliche, unorthodoxe Herausrücken von Jiranek
auf Ballack, wenn dieser auf links oder zwischen den Linien unterwegs
war, sorgte dabei für zusätzlichen Zugriff und würgte die
deutschen Angriffe schnell genug ab, bevor etwa die befreiende
Verlagerung auf Lahm erfolgen konnte.
Aber Deutschland hatte auch einen Plan
B, über den sie etwas mehr Torgefahr erzeugen konnten. Das eine
waren lange Bälle auf Kuranyi, der die Bälle dann auf Schneider und
Ballack ablegte. Vor allem Schneider bewegte sich hier exzellent auf
die zweiten Bälle bzw. Kuranyis Ablagen. Der andere Weg waren
Flanken, die in erster Linie die Flügelverteidiger aus tiefen
Positionen oder ein nach außen rochierender Mittelfeldspieler von
weiter vorne schlug. Der lineare, etwas unambitioniert spielende
Frings lockte auf rechts immer wieder Mares aus der Position, sodass einer von Tschechiens leicht mannorientierten Sechsern mit Schneider oder
Schweinsteiger mitgehen musste, wenn diese in die Lücke hinter dem
Linksverteidiger starteten. Über gutes Nachrücken hielt Tschechien,
ähnlich wie die deutsche Mannschaft, jedoch die Kompaktheit und
konnte den von Frings kaum dynamisch bespielten oder ausgedribbelten
Halbraum schnell genug zulaufen, zumal hier immer wieder ein Loch in
Deutschlands Formation bestand. So blieb es halt bei den Flanken, die
immerhin in einen variabel besetzten Strafraum kamen. Hier zeigte
Schneider wieder ein gutes Raumgefühl und Ballack eine schwer zu
verteidigende Wucht und ein gutes Timing aus der Tiefe.
Deutschland verteidigt die Dominanz
2. Halbzeit |
Zur Pause stand es 1:1, nicht genug aus
deutscher Sicht. Also stellte Völler um: Lukas Podolski kam für
Frings und nahm seine gewohnte, stürmerhafte Linksaußenrolle ein.
Nominell spielte Deutschland nun ein schiefes 4-2-3-1, an der
Rollenverteilung änderte sich aber lediglich bei Ballack und
Schneider Merkliches. Ballack agierte nun als einziger Zehner,
war im Aufbau häufiger halbrechts zu finden und agierte phasenweise
in einer Art Doppelacht mit Schweinsteiger. Schneider agierte rechts
breiter als zuvor, um den Raum für Friedrich aufzumachen und stieß
erst später im Angriffsverlauf in den Strafraum hinein. Ansonsten
war bei den Deutschen aber eigentlich alles wie vorher.
Tatsächlich waren es die bis dato
passiven Tschechen, die der zweiten Halbzeit einen anderen Rhythmus
verliehen. Sie liefen im Pressing viel früher an und besetzten bei
langen Bällen konsequenter die Räume hinter Zielspieler Lokvenc.
Die Flügelspieler machten viele diagonale Wege, die Sechser schoben
aggressiv hinterher und machten auch vermehrt Druck auf Deutschlands
Mittelfeldzentrum.
Das deutsche Team ließ sich von
Tschechiens Aggressivität aber überhaupt nicht verunsichern. Im
Gegenteil: Sie schwangen sich zu ihrer stärksten Phase des Spiels
auf. Wenn Tschechien den zweiten Ball nicht gewinnen konnte, bekam
Deutschland die dringend benötigten Räume auf dem Flügel und zwischen den Linien.
Ansonsten versuchten die Aufbauspieler nun fokussiert die Spieler im
Zentrum mit Flachpässen einzusetzen und die gegnerischen Sechser aus
ihrer Position zu ziehen. Dabei zeigte sich Deutschland überraschend
pressingresistent. Schweinsteiger, Nowotny und Friedrich hatten
einige enge Situationen zu bewältigen, konnten aber (auch mit etwas Ballglück hier und da) stets den
Ballbesitz sichern oder zumindest ein Foul ziehen und Tschechien zum
Rückzug zwingen. Dass Deutschland sich dadurch weiterhin die
Ballbesitzhoheit sicherte, war eine Schlüsselqualität in dieser
Phase.
Über Halbraumdribblings von Friedrich,
Vertikalpässe aus der ersten Reihe, oder über kurze Kombinationen
um Lahm herum, gelangte Deutschland dann immer wieder zwischen die
Linien und konnte über ein zumindest punktuell druckvolleres
Kombinationsspiel als in Hälfte eins auch mehr Torgefahr durch flach
ausgespielte Situationen versprühen. Alternativ bot Podolski eine
zusätzliche Option für Flanken. Zudem legte Ballack individuell
noch eine Schippe drauf, bewegte sich vorausschauender und spielte
den einen oder anderen guten Pass aus einer tiefen halbrechten
Position. Mitte der zweiten Hälfte hatte Deutschland Chancen im
Minutentakt. Die größte davon entstand nach einem simplen
Doppelpass Podolski-Lahm, den Ballack mit einem Pfostenschuss vom
Strafraumrand abschloss. Der Abpraller ging schließlich zum freistehenden
Bernd Schneider, der den Ball beim Nachschuss aufs leere Tor nicht
richtig traf.
So blieb es erst einmal beim 1:1. Etwa
20 Minuten vor Schluss ging Deutschland noch mehr ins Aufrücken,
Friedrich oder Nowotny marschierten durch den Halbraum und gingen mit
in den Strafraum rein. Tschechien hatte in der zweiten Hälfte bis
dahin praktisch keine Torchance gehabt, wenn auch schon ein paar
Konter entstanden waren, aus denen sie mehr hätten machen können.
In der 77. Minute machte Baros dann eine Art Kontertor, dessen
Entstehung sich aus der Aufzeichnung nicht zweifelsfrei
rekonstruieren lässt, weil zu dem Zeitpunkt als die Regie zum
Live-Bild wechselte, Tschechien schon am Ball war. Völler brachte im
Anschluss einen dritten Stürmer für Hamann. Die Staffelung vorne
wurde schwächer, Deutschland positionierte sich fürs Bolzen, bolzte
erst nicht, dann schon, hatte noch eine nennenswerte Chance durch
eine Ecke und fuhr schließlich mit einer Niederlage nach Hause.
Ein gar nicht so blamables Ausscheiden
17:8 Schüsse (davon 10:6 aufs Tor) für
Deutschland, dazu 9:1 Ecken. Eigentlich waren die Deutschen klar
überlegen. Die in der ersten Halbzeit noch fast geschenkte
Ballbesitzhoheit behauptete Deutschland nach der Pause stark und
entwickelte daraus auch vermehrt Torchancen. Das flexible Mittelfeld
um Ballack und Schweinsteiger und der zeitweise hohe Fokus auf das
Zentrum und die Halbräume waren im Jahrzehnt des 4-4-2 überraschende
Erscheinungen. Die Mannschaft war aber wohl noch nicht so weit, um
diesen Fußball komplett zu verinnerlichen. So blieb es bei einer Mischung aus Altem und Neuem, dessen Pole
sich zwar manchmal gegenseitig blockierten, der aber insgesamt schon cool anzuschauen war und mit dem man keinesfalls gegen
Tschechiens zweite Garde verlieren muss.
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